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Synthetische Biologie lüftet Geheimnisse des Lebens ohne Sauerstoff

ERC Advanced Grant für Naturstoff-Forscher Christian Hertweck Das Projekt „AnoxyGen“ wird neuartige Wirkstoffe von Anaerobiern entschlüsseln und ihre Rolle in der Natur aufklären. Manche davon könnten für Mensch, Tier und Umwelt nützlich sein. Christian Hertweck wurde dafür vom Europäischen Forschungsrat (Englisch: European Research Council, ERC) mit einem der renommierten ERC Advanced Grants ausgezeichnet. In dem Vorhaben möchte er die einzigartigen Biosynthesewege und Wirkstoffe anaerober Bakterien erforschen, um ihre Rolle in der Natur besser zu verstehen und sie für medizinische, ökologische und biotechnologische Anwendungen nutzbar zu machen. Hertweck leitet die Abteilung Biomolekulare Chemie am Leibniz-Institut für Naturstoff-Forschung und Infektionsbiologie – Hans-Knöll-Institut (Leibniz-HKI) und ist Professor für Naturstoffchemie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

Der Abteilungsleiter für Biomolekulare Chemie am Leibniz-HKI und Professor für Naturstoffchemie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Prof. Dr. Christian Hertweck, ist vom Europäischen Forschungsrat mit dem renommierten ERC Advanced Grant ausgezeichnet worden. Quelle: Anna Schroll/Leibniz-HKI

Rasterelektronenmikroskopische Aufnahme von <i>Ruminiclostridium cellulolyticum</i>. Christian Hertweck und sein Team entdeckten bei dem Zellulose abbauenden anaeroben Bakterium das Closthioamid – den ersten sekundären Naturstoff dieser Organismengruppe. Quelle: S. Nietzsche/EMZ Jena

Rasterelektronenmikroskopische Aufnahme von anaeroben Bakterien der Art <i>Clostridium puniceum</i> auf einer Kartoffelscheibe. An diesem Modellsystem wurden von einem Team um Christian Hertweck die Clostrubine entdeckt. Clostrubine wirken antibiotisch und schützen die Bakterien vor Sauerstoff, während sie die Kartoffelknolle infizieren und als Nahrungsquelle nutzen. Quelle: Gulimila Shabuer/Leibniz-HKI und EMZ Jena

Hannah Büttner aus dem Team von Christian Hertweck experimentiert an einer sogenannten Anaerobier-Box in einer geschützten Atmosphäre mit sauerstoffempfindlichen Bakterien der Gattung <i>Clostridium</i>. Quelle: Anna Schroll/Leibniz-HKI

Lange bevor die Fotosynthese freien Sauerstoff in die Welt brachte, war die Erde bereits von zahlreichen Lebewesen bevölkert. Sauerstoff war für sie lebensbedrohlich und so haben sie völlig andere Stoffwechselwege entwickelt, als wir sie von Pflanzen, Tieren und uns Menschen kennen. Anaerobe Bakterien haben die Zeiten in speziellen, Sauerstoff-freien Nischen überdauert, manche davon ganz nah bei uns: als wesentlicher Bestandteil des Darmmikrobioms, wo sie von enormer Bedeutung für das Wohlbefinden des Organismus sind. Allerdings können bestimmte Anaerobier auch lebensbedrohliche Krankheiten wie Tetanus oder Botulismus auslösen. Damit haben diese Bakterien einen erheblichen Einfluss auf die Lebensqualität auf der Erde und besetzen eine Schlüsselposition in der Umwelt. Ihr spezieller Stoffwechsel macht sie aber auch zu begehrten Werkzeugen in der Biotechnologie.

Das Projekt „AnoxyGen“ zielt darauf ab, das immense, bisher ungenutzte Biosynthese-Potenzial von Anaerobiern zu erschließen. Trotz ihrer im Genom codierten Fähigkeit zur Bildung neuartiger Verbindungen, sind die meisten dieser Biosynthese-Gene im Labor inaktiv, sodass die Produkte bisher unentdeckt blieben.

Hertweck und sein Team wollen das nun ändern. Mit neu entwickelten Werkzeugen der molekularen und synthetischen Biologie möchten die Forschenden die noch unbekannten Stoffwechselwege dieser Bakterien entschlüsseln und nutzbar machen. Das Projekt umfasst mehrere Arbeitsbereiche, in denen ein leistungsfähiges Expressionssystem genutzt wird, um neue Wirkstoffe zu identifizieren und zu modifizieren. So kann das Team damit auch die Toxine und Virulenzfaktoren von krankheitserregenden Anaerobiern produzieren und erforschen, ohne dafür große Mengen der Krankheitserreger selbst kultivieren zu müssen.

„Mit dem Projekt möchten wir neuartige Methoden und Werkzeuge für die wissenschaftliche Gemeinschaft bereitstellen. Wir erhoffen uns von ‚AnoxyGen‘ einen großen Nutzen, insbesondere für die Medizin, aber auch für die Ökologie und die Biotechnologie“, erklärt Hertweck. „Anaerobe Bakterien sind bisher noch zu wenig erforscht, ihre Stoffwechselvorgänge bieten aber ein großes Potenzial für die Entdeckung neuer Wirkstoffe. Außerdem können wir daraus auch neue Erkenntnisse für ihre Rolle als Krankheitserreger gewinnen.“ Hertweck, der für seine große wissenschaftliche Kreativität bei der Identifikation neuer Wirkstoffe aus vernachlässigten Mikroorganismen bereits mit dem Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Preis und dem Ernst-Jung-Preis für Medizin ausgezeichnet wurde, bereichert mit diesem Projekt auch das Exzellenzcluster Balance of the Microverse, das die Bildung und das Gleichgewicht mikrobieller Gemeinschaften erforscht. Anaerobe Bakterien spielten dort bislang noch eine untergeordnete Rolle, auch weil sie methodisch nur schwer zugänglich waren. Der Forscher möchte diese Lücke nun schließen.

Der ERC Advanced Grant, eine der prestigeträchtigsten Förderungen der Europäischen Union, würdigt die Exzellenz und die Innovationskraft von Spitzenforschenden. Das Projekt „AnoxyGen“ von Christian Hertweck wurde aufgrund seiner großen Aussichten zur Erweiterung unseres Verständnisses der mikrobiellen Biosynthese und zur Entwicklung neuer biotechnologischer Anwendungen ausgewählt. Finanziell komfortabel ausgestattet, nimmt sich der Forscher mit seinem interdisziplinären Team dieser Thematik in den nächsten fünf Jahren an.